NICHT ABGESANDT am 5. Februar 2020 An die Chronosmuse Liebe Cristina, Entschuldige bitte diesen Angriff auf Deine Einsamkeit. Ich bin mir sehr wohl bewusst, wie weit entfernt einen weiteren Brief von mir zu empfangen es von Deinem eigentlichen Verlangen ist, nämlich auf einem Stuhl auf der Concertgebouwbühne mit Deinem Cello zwischen den Knieen, mit dem Bogen in deiner rechten Hand, den Auftakt des Dirigenten zu erwarten. Ich habe vergebens versucht mit iambischem pentameter Versen mir den Weg zu Chronos freizulegen oder zu bauen, aber es ist mir nicht gelungen, vielleicht weil es zu schwierig ist, ungestalte Gedanken in die Strömungen unbestimmbarer Winde, von denen man nicht weiß woher sie kommen oder wohin sie sich verziehen, auszuhauchen. Hingegen finde ich es anregend an Dich einen Brief aufzusetzen und Dir mein Denken zu erzählen, selbst wenn am Ende ein solcher Brief zu blöd erscheint, abgesandt zu werden. Mit der Physik kam ich 15 jähriger zum ersten Mal als Abiturient in der Germantown Friends School in Berührung. Ich war der jüngste und fähigste Schüler in der Physikklasse, begeistert und bezaubert von der Gelegenheit die Welt die mich umgab mit rechnerischen Formeln die mir selbstverständlich schienen, auszumessen. Ich war entschlossen auf der Universität Physik zu studieren. Es kam aber anders, denn auf der Universität wurde ich nicht nur mit höherer Mathematik sondern zu gleicher Zeit mit Literatur, mit Dichtung und mit Philosophie vertraut, mit Vorstellungen mir um vieles zwingender schienen als die anschauungslose Symbolik der integral und differential Rechnung welche auf enttäuschende und bedrückende Weise anfing mich zu langweilen. Als ich demzufolge das erste Mathematikexamen vorbeigeschrieben hatte, wurde mir klar wie wenig das Phyikstudium mich zufriedenstellen würde, ud wie erheblich die Gefahr neinbes Scheiterns. Ich sattelte um auf die Gebiete der Literatur und Geschichte, mit dem Vorbehalt der Möglichkeit an einem künftigen Tage zu den Grundfragen der Physik die mir damals undurchdringlich verschleiert schienen, zurückzukehren. Für den Versuch, heute, nach 74 Jahren auf umwegigen, unkonventionellen Pfaden zur Physik zurückzukehren, wage ich folgende Erklärung: Mein Studium von philosophischen, historischen und literarischen Schriften hat mich zu den Beschlüssen geführt: Erstens, dass die einzige Urgewissheit auf die ich mich verlassen darf, schlicht und einfach mein Erleben ist, das Denken, Fühlen und Empfinden das mir den Augenblick, das mir die vorläufig unbestimmt begrenzte Gegenwart sinnvoll macht. Zweitens, dass die jeweilige Beschaffenheit meines Gemüts nicht nur Ausdruck des Erbguts und der lebenslangen Reibung an der Außenwelt, sprich, Erfahrung, verstanden werden muss, sondern in hohem Maße als Folge der Vergesellschaftung und der Gesellschaft, mit anderen Worten, als Ausdruck der Herde und des Herdeninstinkts. So entwickelt sich meines Verstehns gemäß, die Sprache ausschließlich aus gesellschaftlichen Umständen, aus den Notwendigkeiten von zwei oder mehr Menschen sich zu verständigen. Die Mathematik erscheint mir als ein Symbolinstrument welches ein identisches geistiges Verhalten von mehreren einzelnen Menschen erzwingt. Die Musik, ins Besondere, die Kammer- und Orchestermusik erfordert in ähnlicher und vergleichbarer Weise zur zwangshaften erzwungenen Gleichheit der Handlungen, z.B. Bogenstriche, Trompetenstöße, Paukenschläge, einzelner individueller Menschen. Drittens, die Sprache als Verständigungsinstrument, als Geschichte, als Märchen, als Mythos, bewirkt unter den Menschen die sie sprechen das Bewusstsein einer virtuellen Wirklichkeit; einer von einzelnen Menschen nie erlebte künstliche imaginäre wirtuelle Wirklichkeit welche sich selbst bestätigt oder zu bestätigen scheint. Diese virtuelle Wirklichkeit ist nicht nur der geistige Raum des Zeitungsberichtes, der Geschichte und der Geschichtswissenschaften; sie ist auch der Wirklichkeitsraum auf welchen die Naturwissenschaften, einbeschlossen die Chemie und in gegebenem Fall, die Physik sich verlassen. Ins Besondere ist der Begriff der Zeit ein Geschöpf der genannten virtuellen Wirklichkeit und dessen Bewusstsein. Viertens, erst die soeben beschriebene aus dem Einzelerleben und aus der Einzelerfahrung abgeleitete analytische-synthetische virtuelle Wirklichkeit bietet den Standort, die Plattform, die Bühne, bietet die geistige Möglichkeit für die Beschreibung und Erklärung des Erlebnis-Begriffes der Zeit. Demgemäß ist der Denkansatz (approach) zum Zeitberiff ein philologischer, nicht wie gewöhnlich ein physikalisch mathematischer. Zeit ist ein Wort das ich als Kind mit dem Sprachschatz des Elternhauses übernommen und mir angeeignet. Es schöpft seinen Sinn aus den Umständen unter denen es ausgesprochen wird, und auf die es weist. Es lässt sich übersetzen ins Englische als "time", ins Französische als "temps", ins Lateinische als "tempus", ins Griechische als Chronos. Wie die Bedeutung des Wortes Zeit in der Muttersprache schwankt, umso mehr die Bedeutungen der vermeintlich wortgetreuen Übersetzung in andere Sprache. So sagt man im Englischen: every time the sun rises, heißt es auf Deutsch: jedes Mal wenn die Sonne aufgeht, und im Französichen: nicht Chaque temps, sondern chaque fois. In Anbetracht solche Veränderlichkeit habe ich mir die genaue Begriffsbestimmung vorbehalten, und bestimme meinem Empfinden und Gebrauch gemäß ist Zeit ein Erlebensströmen das weder Anfang noch Ende hat. Andere' Begriffsbestimmungen von Zeit sind denkbar. Ich überlasse sie anderen. Mein Vorgehen bewinnt historische Bestätigung mit der Tatsache das dem Mythos gemäß Chronos weder Anfang noch Ende hat, weder Vater noch Mutter aufweist. Meine Bestimmung von Zeit als Fluss, fordert supplementäre Bestimmungen von Zeitspannen, von Zeitpunkten, von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ich weise dafrauf hin, dass es möglich ist die genannte Zeitproblematik durch verwickelte mathematische Vorgänge und Berechnungen'zu verschleiern, nichtg aber sie aufzulösen.